Dieses Bild zeigt das Cover der Studienausgabe des Wigalois vom De Gruyter Verlag.Cover der Wigalois-Studienausgabe von De Gruyter. (Quelle)

Der um 1210/1220 entstandene Wigalois Wirnts von Grafenberg ist, nach dem Parzival Wolframs von Eschenbach, einer der am stärksten überlieferten Artusromane des Mittelhochdeutschen. Der Held Wigalois besteht hierin eine Reihe von Bewährungsabenteuern, âventiuren, um so das Land einer schönen Königstochter namens Larie aus der Hand des heidnischen Usurpators Roaz zurückzuerobern. Mit dem erhofften Bestehen dieser Quest will sich Wigalois den Anspruch auf eine Vermählung mit Larie sichern.

 

Unter dem Einfluss des düsteren Roaz ist Laries angestammtes Reich Korntin zu einer bedrohlichen Anderswelt geraten: 

Ein Drache und manch andere unliebsame Gestalt treiben in dem einst florierenden Reich ihr Unwesen. Mit Zaubergegenständen ausgerüstet betritt Wigalois diese verwilderte und verfluchte Welt, ein Grenzübertritt in eine verschreckende Anderswelt. Eine Episode jener Grenzerfahrung bildet Wigaloisʼ Begegnung mit dem wilden Waldwesen Ruel – halb Tier, halb Frau haust die aggressive Ruel in einer Höhle inmitten der Wildnis und bereitet dem Helden ernsthafte Probleme: Die wilde Kreatur überwältigt den sonst so siegessicheren Helden und fesselt ihn.

Wigalois bangt ernsthaft um sein Leben, als dieses in den wenig vertrauenerweckenden Klauen der Waldgestalt liegt – insbesondere in dem äußerst sensiblen Moment, als Ruel mit seinem eigenen Schwert in der Luft zu schwingen beginnt, in der offensichtlichen Absicht, den Gefesselten im nächsten Moment zu enthaupten...

 

Wunderwesen sind keine Erfindung des Mittelalters, sondern ein seit der Antike bestehender Topos der europäischen Kulturgeschichte. An den topographischen Peripherien der, aus eurozentrischer Perspektive, bekannten Welt siedelten sich in der Antike Vorstellungen von Wunderwesen an, teils Reiseeindrücken, teils der Phantasie entspringend.

 

Ein Bild des wilden Mannes.Wilder Mann in einem Stundenbuch des 14. Jhs., British Library. (Quelle) Unter theologischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Gesichtspunkten setzten sich zahlreiche literati intensiv mit diesen Wunderwesen auseinander. Im Mittelalter schließlich dürfen sie als Gegenstand kollektiver Vorstellungen gelten, deren Realexistenz damals kaum abzusprechen war – man glaubte potenziell an humanoide Zwischenwesen wie Ruel, die im unkultivierten Raum fernab der höfischen Zivilisation hausten. Unter den Wunderwesen stellen, neben Drachen, Zwergen und Riesen, jene wilden Frauen – und auch wilde Männer – Sonderfälle dar, derer es keinerlei antike Vorbilder gibt und die „vermutlich auf einheimische mythische Quellen“ zurückgehen (Simek 2015, S. 100).

So erweist es sich als ein faszinierendes Anliegen, die wundersame – und äußerst gewalttätige – wilde Frau Ruel und ihre Wirkungsweisen auf den Helden Wigalois in dem gleichnamigen mittelhochdeutschen Text etwas näher zu untersuchen.

 

„MHD. wilde – EIN WEITER BEGRIFF“

Zunächst sei der Begriff wilde kurz definiert, der im Mittelhochdeutschen eine deutlich breitere Bedeutung besitzt als der uns bekannte nhd. Begriff ,wildʽ: Er bezieht sich auf „jegliche Devianz von der sozialen Ordnung, d.h. Dämonisches, Heidnisches, Betrug, Täuschung, Sittenlosigkeit, Rohheit, Unheimliches und Gespenstisches“ (Habiger-Tuczay 1990, S. 603). Demnach umfasst wilde alles, was außerhalb „menschlicher Gemeinschaft, Kultur, Sitte und Norm“ steht (ebd.).

Die mediävistische Forscherin Christa Habiger-Tuczay offeriert ein Modell von dreierlei Dimensionen der Wildheit, die sich auf das wilde wîp Ruel anwenden lassen: Habiger-Tuczay unterscheidet die religiöse (heidnische, dämonische, teuflische Aspekte), ethische (Sittenlosigkeit, Laster, Unmoral) und anthropologische Dimension (halbtierische Eigenschaften) von Wildheit. Beginnend mit der anthropologischen Dimension ist Ruels theriomorphe äußere Erscheinung auffällig: Ruel ist unbekleidet und provoziert Assoziationen mit dem Tierreich.

 

Wie eine Mischung aus Bär, Hund und Greif steht Ruel vor dem Helden, dessen ungläubige Augen in Todesangst auf der schrecklichen Kreatur haften.

 

Mit ihrer schwarzen Ganzkörperbehaarung und ihren verhärteten Händen ähnelt sie einem Bären, ihrer eine Spanne breiten Ohren halber einem Hund und ihrer klauenartigen Finger und Nägel wegen einem Greifen. Auch die Überdimensionierung von Zähnen und Mund, das grobe Haupt und die platte Nase, die langen, grauen Brauen, die mächtigen Beine und unförmigen Füße, ihre große Behendigkeit und übermäßige Körperkraft begründen ihren Theriomorphismus. Dahingegen wirken ihr langes, ungepflegtes Haupthaar, der gekrümmte Rücken, die herabhängenden Brüste und ihre allgemeine Statur zwar abstoßend, sind jedoch eher mit menschlichen statt mit wilden Attributen gleichzusetzen. Dezidiert wird Ruel in einem Vergleich mit der Schönheit höfischer Damen abgeglichen und in ihrer unansehnlichen Wildheit verurteilt.

Mit ihrer schwarzen Ganzkörperbehaarung und ihren verhärteten Händen ähnelt sie einem Bären, ihrer eine Spanne breiten Ohren halber einem Hund und ihrer klauenartigen Finger und Nägel wegen einem Greifen. Auch die Überdimensionierung von Zähnen und Mund, das grobe Haupt und die platte Nase, die langen, grauen Brauen, die mächtigen Beine und unförmigen Füße, ihre große Behendigkeit und übermäßige Körperkraft begründen ihren Theriomorphismus. Dahingegen wirken ihr langes, ungepflegtes Haupthaar, der gekrümmte Rücken, die herabhängenden Brüste und ihre allgemeine Statur zwar abstoßend, sind jedoch eher mit menschlichen statt mit wilden Attributen gleichzusetzen. Dezidiert wird Ruel in einem Vergleich mit der Schönheit höfischer Damen abgeglichen und in ihrer unansehnlichen Wildheit verurteilt.

 

Die ethische Dimension von Wildheit betreffend wird in der Erzählung deutlich, dass Ruel ein feines Benehmen fremd ist, sie auf Wigalois keineswegs liebenswürdig, sondern ungehiure (V. 6340), furchterregend, wirkt und dass sie triebhaft, da von Wut bestimmt ist. In der gesamten Episode lässt der Erzähler sie nicht sprechen, und sie verhindert mittels Gewaltanwendung, dass Wigalois sie zur Rede stellt, wodurch sie sich von ethischen Grundsätzen abwendet. Ruel lebt offenbar isoliert, war jedoch einstmals verheiratet, d.h. zu einer sozialen Bindung fähig: eine Komponente der Menschlichkeit. Dies ist im Übrigen der Grund für ihren unbändigen Zorn: Wigalois soll als Büßopfer herhalten, da ein anderer Ritter ihren Gatten ermordet hat.

Darüber hinaus trägt Ruel einen Namen: diu starke Rûel, eine Komponente, die sie als (selbst-)reflexive Person auszeichnen könnte. Rûel/ Ruel, vermutlich von rûch stammend, was in etwa „haarig, struppig, zottig rauh, herbe, hart, strenge, unwirsch, ungebildet“ bedeutet (Lexer 1992, S. 172), verweist jedoch wiederum auf Ruels markante Wildheit im anthropologischen und ethischen Sinne.

 

Was ist dieses furchtbare Wesen vor ihm nur: ein Mensch, ein Tier – oder etwas Drittes...?

 

Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage schlussendlich die dritte Dimension von Wildheit, die sich auf religiöse Aspekte bezieht.

Ruels Augen als zwô kerzen brünnen dâ (V. 6296), sie brennen wie (Höllen-)Feuer, wofür auch die Beschimpfung Ruels als wîp,/ diu der helle zæme (V. 6499 f.), als ein Höllenweib, spricht. Ruel wird zudem als tiuvelin, Teufelin, und tiuvels trûte (V. 6379, 6443, 6452), des Teufels Geliebte, bezeichnet. Naheliegend ist, auch aufgrund ihrer schwarzen Körperfärbung, dass Ruel heidnisch ist.

Einen Bund mit dem Teufel jedoch hat im Wigalois nicht Ruel, sondern einzig der Tyrann Roaz explizit geschlossen.

Insgesamt ist Ruel nach religiösen Parametern zwar durchaus ohne nennenswerte Einschränkung der wilde zuzuordnen. Die teuflischen Beinamen aber, die sie vom Erzähler mehrfach erhält, wirken überspitzt – Ruel wird vom Heidnischen in die Ecke des Antichristlichen, des Teuflischen gedrängt. Damit wird sie, wird das Wilde an sich, als prägnantes Gegenbild zum christlichen Helden Wigalois vorgeführt.

Ruel ist, im Fazit, nur wenige menschliche Züge aufweisend, sowohl in anthropologischer und ethischer als auch in religiöser Sicht weitgehend mit dem pejorativ zu deutenden Attribut der Wildheit zu charakterisieren. Dabei betont der Erzähler des Romans kontrastiv-hyperbolisch ihre dämonische Wirkung auf Wigalois, den christlich-kalokagathischen Helden, was einen entscheidenden Hinweis für das Verständnis der Szene bieten könnte.

 

POETISCHSTE ODER ÜBERFLÜSSIGSTE EPISODE DES ROMANS?

Wie nun ist Wigaloisʼ Gang zum wilden wîp einzuordnen? In der Forschung ist hierüber nicht wenig kontrovers diskutiert worden: Das „poetisch wertvollste [Segment] des Romans“ (Saran 1896, S. 396) als auch „überflüssig wie ein Kropf,“ (Schröder 1986, S. 258) wurde die Ruel-Episode genannt, während andere in ihr bloße „Fabulierlust“ sehen (Fuchs 1997, S. 159). Doch es lässt sich zeigen: Der Weg zur wilden, tierähnlichen Frau kann auf (mindestens) dreierlei interessante Weise gelesen werden. Schon die detaillierte Gestaltung des Wunderwesens Ruel birgt interpretatorisches Potenzial. Auch die penible Routenplanung durch die Anderswelt weist auf die Bedeutsamkeit der umstrittenen Episode hin: Erst ein eingängig beschriebenes Wegenetz durch den Wald führt Wigalois zum Habitat des Wesens hin. Kann die Begegnung mit Ruel also wirklich ein rein zufälliger Zwischenfall auf einem Irrweg sein, oder erfüllt sie vielmehr vitale Funktionen für den Fortlauf des Romans?

 

Noch immer schwingt die wütende Ruel das Tötungsinstrument in der Luft. Ihre bärengleichen Tatzen krallen sich um die Waffe. „Hätte ich nur nicht den Ehrenkodex eingehalten,“ schießt es Wigalois durch den Kopf, „dann wäre ich jetzt auf dem Weg zu einem gebührlichen Zweikampf mit dem finsteren Roaz! Stattdessen werde ich gleich mit meinem eigenen Schwert enthauptet, noch dazu vom hässlichsten Wesen, das meine Augen je erblicken mussten!“ Dampfend steht die schwarze, haarige Erscheinung vor ihrer düsteren Höhle und durchdringt den gefesselten Wigalois mit wahnsinnigen, feuergleich funkelnden Augen...

 

Wie konnte Wigalois überhaupt in diese missliche Lage geraten? Es ist der tugendhaft eingehaltene höfische Verhaltenskodex, der Wigalois daran gehindert hat, das unbewaffnete weibliche Waldwesen anzugreifen: wan si endûhte in des niht wert/ daz er gegen ir sîn swert/ immer gevuorte/ wan grôziu tugent ruorte/ sîn herze zallen stunden (V. 6377 f.). Das hier unangebrachte, wenn auch ehrenhafte Verhalten des jungen Ritters führt zu einer Asymmetrie der Handlungsmacht – hier legte seine Tugendhaftigkeit ihn wortwörtlich in Fesseln – oder ist es seine Selbstüberschätzung als bis dato erfolgreicher Held?

 

„Gott, erhöre mein Flehen, hilf mir aus diesen Fesseln, errette mich vor diesen Klauen und vor diesem ungebührlichen Todesstoß!“ entfährt es Wigalois als jäher Schrei.

 

Und wirklich: Wie durch ein Wunder lösen sich die Handfesseln des Helden, während Ruel vor dem vermeintlichen bedrohlichen Ruf des nahenden Drachens Pfetan flieht. Mit der Erretung Wigaloisʼ durch Gott – in einer göttlichen Prüfung – markiert die Episode einen Angelpunkt bezüglich des christlichen Glaubenswunders, das für den religiösen Helden fortan zu einem unentbehrlichen Bestandteil der âventiure avancieren wird: Nun nämlich ruft der Erzähler „ein Arsenal christlicher – und parachristlicher – Gegenmittel auf, um den Teufelsbündler und sein Schreckensreich zu stürzen“ (Fasbender 2010, S. 92). An der Epiphanie der Ruel-Episode beweist sich: Der tugendhafte Wigalois kämpft in dem von Roaz verdammten Reich nicht ganz allein gegen die finsteren Schrecken – eine göttliche Hand steht ihm tatkräftig bei.

 

Darüber hinaus bietet sich eine zweite, psychoanalytische Lesart dieses literarischen Abschnitts an: Die temporäre Abkehr Wigaloisʼ vom eigentlichen âventiure-Weg bewirkt eine meditative Innenkehr des Helden, die im Kontext des gesamten Romans beispiellos ist.

 

Abseits aller âventiuren zeigt sich dieser Weg in Ruels Sphäre, in den Urwald, als Schwellenübertritt, Übergangsritus und initiationsähnlicher Bewährungsprozess des Helden. Das Habitat Ruels ist ein exzeptioneller Raum: Fernab von allem bisher Gekannten erreicht Wigalois Ruels Unterschlupf, eine Höhle mitten im Nichts, die sich wie ein dunkler Uterus vor ihm auftut. Diese uterine Analogie ist ein Raum, aus dem heraus die gestärkte Identität des Helden, der hier beinahe sterben muss, neu geboren wird. Neben dem Epiphanieerlebnis reift der junge Gawanide Wigalois in dieser Episode auch auf persönlicher Ebene, vom unbedarften Jüngling zum gereiften Mann.

 

hoeleDie Höhle als Symbolraum des Unbewussten. (Quelle)Wigaloisʼ Abweg in die wilde führt ihn zu Ruel – als archetypisch anmutende Kriegerin und wütende Ur-Gewalt, die ihn zu ungewohnter Passivität und Innenschau zwingt: dem jungen rîter si dô nam/ die kraft und sîne sinne (V. 6400). Des Bewusstseins beraubt, seiner Rolle als Ritter entrückt und der Sprache entzogen, vertieft er sich ins Unbewusste, in inneren Monolog, in eine Selbstbegegnung, in einen Raum der Reflexion: Wigalois denkt nach über seine Qualitäten und Werte sowie über seine Angst- und minne-Gefühle. Am Ende der Ruel-Episode versenkt er sich, anstatt in einen Gottesdienst, ebenfalls in sich selbst: „Gwigalois verharrt denn auch nicht im Gebet“ (Fasbender 2010, S. 96), sondern nutzt die „Grenzerfahrung [auch] zur Selbsterkenntnis“ (Giloy-Hirtz 1991, S. 167). Das Erfahren des wilden steht symbolisch für Wigaloisʼ innere Konstitution und sein neues „Selbst-Bewusstsein“ (Fasbender 2010, S. 96).

 

Zuletzt lässt sich die Ruel-Episode auch auf metonymischer Ebene betrachten. Schließlich können Monster als ein Stück Naturgeschichte verstanden werden, die als Kontrastphänomene in Bezug auf kulturelle Muster herbeizitiert werden – wird also in der Wildnis-Episode nicht augenscheinlich auch die höfische Kultur verhandelt? Zeigt sich in der überaus leidenschaftlichen Beschreibung des Hässlichen und Unkultivierten nicht ein Gegenbild zur höfischen Dame, zur Hofkultur selbst?

 

Mit Ruels abstoßendem Äußeren wird auf metonymischer Ebene zugleich ihr Geltungsbereich, die rohe Wildnis und Un-Kultur, abgestoßen. Wigalois hingegen profiliert sich als Vertreter der christlichen Kultur, als Pars pro toto der heroischen Kultiviertheit, die âventiure-Erfolg garantiert. Das wilde an sich rückt auf die Ebene des Signifikats und wird darin zum dezidiert Unerwünschten erklärt. Stellvertretend für seine Kulturgemeinschaft, nicht nur der persönlichen Profilierung halber, muss der Held durch das Böse resp. durch das Kulturfremde hindurch.

 

Der vermeintliche Irrpfad des Wigalois in die wilde, zum wilden wîp, entpuppt sich – in diesen drei Betrachtungen – somit nicht als Umweg, sondern als ein bedeutsames Etappenziel auf dem âventiure-Weg, das eine Breite interpretatorischer Räume eröffnet. Zudem zeigt sich: Ein phantastischer Fundus kurioser Aspekte sammelt sich im Fabelwesen des wilden wîps, das mit Wigalois und seinen Werten in Kontrast tritt.

Sie können ein PDF des Beitrags in der ursprünglichen Formatierung der Autorin hier herunterladen.

Der vorliegende Artikel basiert auf der Modulabschlussprüfung „Wirkungsweisen des Wilden im Wigalois Wirnts von Grafefberg“, Dozentin: Fr. Dr. Satu Heiland, WS 2015/ 16, von Melanie Alessandra Moog.